100 Jahre James Joyce' "Ulysses":Die endlosen Korrekturen

100 Jahre James Joyce' "Ulysses": Zu obszön? Beinah wäre Joyce' Vorhaben, einen Verlag für "Ulysses" zu finden, gescheitert. Dann fand sich eine, die mutig genug war: Sylvia Beach, Verlegerin und Buchhändlerin bei Shakespeare and Company in Paris.

Zu obszön? Beinah wäre Joyce' Vorhaben, einen Verlag für "Ulysses" zu finden, gescheitert. Dann fand sich eine, die mutig genug war: Sylvia Beach, Verlegerin und Buchhändlerin bei Shakespeare and Company in Paris.

(Foto: AFP)

Es sah so aus, als würde James Joyce nie fertig mit seinem monumentalen "Ulysses". Aber an seinem vierzigsten Geburtstag wollte er den Roman gedruckt sehen. So begann das Rennen auf die vielleicht berühmteste Deadline der Weltliteratur.

Gastbeitrag von Colm Tóibín

James Joyce lebte in Triest, als 1914 der Krieg ausbrach, er hatte Irland zehn Jahre zuvor verlassen. Als britischer Staatsbürger konnte er von Glück sagen, dass er nicht von den Österreichern gefangen genommen wurde. Im Jahr darauf floh er mit seiner Familie nach Zürich. Zu dem Zeitpunkt hatte er die ersten drei Kapitel seines gewaltigen Romans "Ulysses" fertiggestellt. An Ezra Pound schrieb er, es handele sich um die Fortsetzung seines autobiografischen Romans "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann", in der auch Protagonisten seiner Erzählungssammlung "Dubliner" Gastauftritte hätten.

Im Laufe der folgenden fünf Jahre aber veränderte sich der Roman. Joyce interessierte sich immer weniger für die Charaktere und kümmerte sich mehr um den Stil. Es war, als löse das Erschaffen von Figuren und Szenen selbst eine Art Erregung in ihm aus, eine Unruhe, die ihn die Gattung des Romans neu erfinden ließ.

Am Anfang stand ein Plan. Joyce würde einen einzigen Tag eines Dubliner Sommers nehmen - den 16. Juni 1904. Er war abergläubisch, Daten nahm er ernst. Der 16. Juni 1904 war der Tag, an dem er zum ersten Mal mit Nora Barnacle spazieren gegangen war, die seine Gefährtin fürs Leben werden sollte. Er ordnete seine Erzählung um Episoden aus Homers "Odyssee" an. Durch die Details aus der "Odyssee", die er verwendete, verband er in ironischer Absicht das Epische mit dem Gewöhnlichen.

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Bloom ist ein moderner Mann und wie sein Autor der absolute Städter

"Ulysses" ist reich an Verschiebungen und Sprüngen. Als er in Zürich am vierten Kapitel "Kalypso" arbeitete, führte Joyce seinen Helden Leopold Bloom ein, dessen Art, die Welt wahrzunehmen und sich Gefühlen auszusetzen, später noch in vielen Kapiteln des Romans auftauchen würde.

Zeitweise ging Joyce wie ein ganz herkömmlicher Romanautor vor. Wenn Bloom sich ein Stück Seife kaufte und in die Tasche steckte, sorgte Joyce dafür, dass diese Seife auch in verschiedenen späteren Szenen auftauchte. Blooms Erinnerungen bleiben konstant - Erinnerungen an den Tod seines kleinen Sohns Rudy, den Suizid seines Vaters, die Untreue seiner Frau Molly.

Bloom ist ein moderner Mann, der sein Geld als Anzeigenverkäufer verdient. Er ist jüdisch, aber nicht religiös, ist sinnlich und offen. In einem Land, dessen Literatur das Ländliche, Windgepeitschte zelebrierte, war Bloom, wie sein Autor, der absolute Städter. Joyce genoss die Straßen von Dublin, das ebenso sehr wie seine Figuren zu den Protagonisten des Buches zählt.

Als die Arbeit voranschritt, begann er sich für das Experimentelle zu interessieren

Joyce' Manuskripte helfen uns zu rekonstruieren, was er vorhatte. Eines der aufregendsten und brisantesten Kapitel in "Ulysses" ist das zwölfte, "Der Zyklop", das er 1919 schrieb. In dem Abschnitt trifft Leopold Bloom in einem Pub auf eine Gruppe irischer Nationalisten und argumentiert unter anderem gegen Gewalt und Vorurteile an: "Gewalt, Haß, Geschichte, all das. Das ist kein Leben für Männer und Frauen, Beschimpfung und Haß."

In diese gewöhnlichen Szenen des Kneipenlebens in Dublin fügte Joyce kunstvolle Parodien bestimmter Themen ein, die damals in Irland umgingen. Er suchte sich zum Beispiel die Hinrichtung des Patrioten Robert Emmet im Jahr 1803 aus, ein für irische Nationalisten wichtiges Ereignis, und machte sich ungeheuer lustig darüber, indem er diejenigen auflistete, die gekommen waren, um zuzusehen, als sei das ein komisches Spektakel. Als das Buch allmählich fertig wurde, fügte Joyce diesen Parodien noch weitere köstliche Details hinzu und machte die französischen Druckereien verrückt mit seinen ständigen Korrekturen in unleserlicher Handschrift.

100 Jahre James Joyce' "Ulysses": Nach Fertigstellung des "Ulysses" empfand James Joyce eine "lebhafte Erschöpfung", umso dringlicher aber wollte er das erste Exemplar des Buchs an seinem 40. Geburtstag in Händen halten.

Nach Fertigstellung des "Ulysses" empfand James Joyce eine "lebhafte Erschöpfung", umso dringlicher aber wollte er das erste Exemplar des Buchs an seinem 40. Geburtstag in Händen halten.

(Foto: Fran Caffrey/AFP)

Wir wissen, dass Joyce diese Parodien als Erstes geschrieben hat. Als die Arbeit voranschritt, begann er sich zunehmend für das Experimentelle zu interessieren. Der Realismus der Wirtshaus-Passagen in "Der Zyklop" dient dazwischen nur als Verbindungsmaterial. Dann, im Kapitel "Die Rinder des Sonnengottes", zeichnete Joyce die Gespräche einiger Männer nach, die sich in einer Geburtsklinik versammeln, und bediente sich dafür traditioneller Erzählformen der englischen Literatur. Jede Zeile dieses Abschnitts ist ein Pastiche.

Im nächsten Kapitel, "Circe", gab Joyce die erzählende Prosa dann ganz auf und schuf die Phantasmagorie eines Bordells wie in einem Theaterstück oder einem Opernlibretto mit vielen wettstreitenden Stimmen und Toten, die sich unter den Lebenden bewegen.

Auch wenn Joyce die großen Momente reiner sprachlicher und erfinderischer Energie liebte, waren ihm realistische Details und topografische Präzision doch wichtig. Als im November 1921 zum Beispiel die Drucker schon nach der endgültigen Fassung des Buches riefen, schrieb Joyce noch an die Tante in Dublin, um sich zu versichern, dass es wirklich "möglich ist für einen normalen Menschen, über die Brüstung an der Eccles Street 7 zu steigen", dem Haus, in dem Leopold Bloom und seine Frau Molly leben.

Das Buch wurde in der Korrektur um ein Drittel dicker

Da er in einer Zeit des Aufruhrs in Irland wie auf dem europäischen Kontinent geschrieben wurde, ist "Ulysses" bewusst instabil und provokativ. Als Joyce einige Kapitel als Fortsetzungsroman im amerikanischen Magazin The Little Review herausbrachte, wurde die Publikation von den US-Behörden beschlagnahmt. Die Herausgeber wurden im Februar 1921 vor Gericht gestellt. In der Konsequenz begannen amerikanische und britische Verleger vor der Aussicht auf den "Ulysses" zu bibbern.

Das Manuskript auch nur abgetippt zu bekommen, stellte sich als Problem heraus. Der Ehemann einer Schreibkraft in Paris war so empört über die Seiten, die er zu sehen bekam, dass er sie geradewegs ins Feuer warf.

Joyce fürchtete, sein Buch würde nie das Licht der Welt erblicken. Als Sylvia Beach von der Pariser Buchhandlung Shakespeare and Co. anbot, es auf eigene Faust herauszubringen, nahm Joyce an. Beach fand einen literarisch bewanderten Drucker in Dijon namens Darantiere, und obwohl es so aussah, als seien damit Joyces Probleme gelöst, trat er jetzt in ein hektisches Rennen ein, nicht so sehr um das Buch zu beenden, sondern um es in einen Zustand zu bringen, der ihm akzeptabel erschien.

Joyce hatte einen Plan für den "Ulysses", bevor er zu schreiben begann, aber im Laufe der Arbeit wurde er ehrgeiziger und energischer. Er ließ nicht nur die letzten Kapitel experimenteller und erfinderischer werden, er überarbeitete auch frühere Teile und ergänzte sie, meistens erst, wenn die Fahnen aus der Druckerei zurückkamen. Das Buch wurde in der Korrektur um ein Drittel dicker.

100 Jahre James Joyce' "Ulysses": Joyce' Manuskripte bezeugen einen zähen Schreibprozess. Der Autor wurde immer ehrgeiziger, schrieb Kapitel mehrfach um und gab sich endlosen Korrekturschleifen hin.

Joyce' Manuskripte bezeugen einen zähen Schreibprozess. Der Autor wurde immer ehrgeiziger, schrieb Kapitel mehrfach um und gab sich endlosen Korrekturschleifen hin.

(Foto: Dan Loh/AP)

Vielleicht hätte Joyce sein Buch noch jahrelang weiterschreiben können. Aber im Jahr 1921 kam ihm eine Idee. Am 2. Februar 1922 wäre sein vierzigster Geburtstag. Ein verheißungsvolles Datum, um sein Meisterwerk zu veröffentlichen. Jetzt hatte er eine Deadline.

Noch im November 1921 versuchte er allerdings Änderungen durchzukriegen, sandte den erschöpften Druckern zum Beispiel eine weitere Ergänzung, die sie am 15. November erhielten. Der langen Liste fiktiver Figuren, viele mit albernen Namen (wie "Ali Baba Backsheesh Rahat Lokum Effendi" und "Hokopoko Harakiri"), die Robert Emmets Hinrichtung besuchen, wollte Joyce unbedingt den Namen "Borus Hupinkoff" hinzufügen. Aber die Druckerei antwortete mit "trop tard". Es war zu spät für noch mehr Änderungen.

Von 1922 bis ins Jahr 1984, in dem Hans Walter Gabler, der Herausgeber der genetisch-kritischen Ausgabe des "Ulysses" dem Hupinkoff seinen rechtmäßigen Platz im Text wiedergab, musste Borus auf der Welt umhergehen, ohne dass sich sein Name im "Ulysses" fand.

Am 1. Februar schrieb Darantiere in Dijon an Sylvia Beach, um ihr mitzuteilen, dass er drei Exemplare des fertigen Buches versenden würde; sie sollten am Mittag des nächsten Tages ankommen. Joyce beschrieb seinen Zustand zu diesem Zeitpunkt als "lebhafte Erschöpfung". Er hatte das Gefühl, ein solches Vorgehen würde zu viel dem Zufall überlassen. Statt dessen wurde es so eingerichtet, dass der Drucker das Buch dem Schaffner des Schnellzuges Dijon - Paris aushändigte, welcher um sieben Uhr morgens in Paris ankäme.

Also wartete Sylvia Beach auf den Zug, traf den Schaffner und bekam ein Paket ausgehändigt, das zwei Exemplare des "Ulysses" enthielt. Sie nahm ein Taxi zu Joyce' Wohnung und gab ihm eins davon. Das andere stellte sie in ihrem Geschäft aus.

Es war der 2. Februar 1922, Joyces vierzigster Geburtstag. Es war der erste Tag des "Ulysses", dessen Erscheinen vor hundert Jahren wir feiern.

Aus dem Englischen von Marie Schmidt.

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