Künstler Dan Graham im Alter von 79 Jahren gestorben:Mattscheiben in Vorgärten

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Dan Graham (1942-2022) im Jahr 2006 vor seiner Arbeit "From Boullée to Eternity" in Paris. (Foto: Franck Fife/AFP)

Zum Tod des amerikanischen Bildhauers, Architekten, Theoretikers und Popkultur-Enthusiasten Dan Graham.

Von Catrin Lorch

Die Zugfahrt, mit der etwas endet oder beginnt, ist ein literarisches Motiv, seit es Züge gibt. Es erstaunt also nicht, dass die Karriere von Dan Graham als Künstler mit so einer Reise verbunden ist. Der 23-Jährige, dessen Galerie in New York gerade pleitegegangen ist, reist im Jahr 1965 zurück zu seinen Eltern nach New Jersey, als sein Blick über die kastigen Fassaden der Vorstädte gleitet. Der studierte Philosoph erkennt die Ähnlichkeit zu Minimal-Skulpturen, er hat als Galerist Donald Judd und Sol Lewitt ausgestellt.

Aus dieser Vertrautheit mit der zeitgenössischen Kunst entstehen dann seine Fotografien "Homes for America" (1966). Sie sehen aus wie Schnappschüsse und gelten heute als eines der bedeutendsten Werke des Konzeptualismus. Der Autodidakt wird dann schon wenige Jahre später zur fünften Documenta eingeladen und den Skulptur-Projekten in Münster. Auch wenn Dan Graham von sich selbst sagt, er habe sich zeitlebens mehr als Autor oder Architekt verstanden und Kunst nur als "passioniertes Hobby" gepflegt, gilt er als einer der einflussreichsten Künstler der Jahrtausendwende.

Dass Dan Graham, der am vergangenen Samstag im Alter von 79 Jahren in New York gestorben ist, sich nicht festlegen mochte auf eine Disziplin, resultiert in einem Œuvre, das sich sogar in den experimentierfreudigen Siebzigerjahren noch einmal abhebt. Er schreibt und fotografiert, filmt, skizziert, ist Performer, setzt Installationen aus Glas und Stahl zusammen und pflanzt große TV-Screens in Vorstadt-Vorgärten, auf denen das Programm übertragen wird, das gerade im Wohnzimmer läuft.

Brecht und Dean Martin, Godard und "Sonic Youth" in einem Atemzug

Während seine Video-Installationen die Zeit überlisten, durchdringen sich in den Installationen das Drinnen und das Draußen: Rahmen mit halbdurchsichtigen Spiegeln, Fensterglas und die Mattscheiben von Fernseh-Monitoren setzt er zu Kabinetten und Seh-Erfahrungen zusammen, streut sie in Parks und Innenstädte "wie Satzzeichen", die für einen Moment die Erfahrung des physischen Raums anhalten. In Deutschland leistet sich Stuttgart im Jahr 1993 einen dieser eleganten Pavillons, das "Gate of Hope", im Innenhof der Berliner Kunstwerke steht sein "Café Bravo". Der Amerikaner wird im Europa der Neunzigerjahre zum Fixpunkt eines Kunst-Diskurses, in dem sich Philosophie, Soziologie und Medienwissenschaften treffen. Er stellt in Wien und Graz aus, in Eindhoven, London und insgesamt fünfmal auf der Kasseler Documenta. In den USA, wo er ewig in einem billigen Apartment an der Lower East Side wohnt, richtet man ihm die erste Retrospektive erst im Jahr 2009 aus, im New Yorker Whitney Museum, dem Walker Arts Center in Minneapolis und dem Museum of Contemporary Art in Los Angeles.

Vielleicht war es sein unruhiger Intellekt, der die Museen dort zurückschrecken ließ. Dan Graham, der darauf beharrte, dass "alle meine intellektuellen Ideen aus der Populärkultur" stammen, trat auch schon mal mit Sonic Youth auf oder interpretierte Dean Martins Fernsehshows in einem Atemzug mit Brecht und Godard. Ein Kritiker der New York Times schrieb einmal verstört, der Künstler würde keinen Unterschied machen zwischen Ludwig Wittgenstein und Britney Spears - und dann auch noch deren Sternzeichen zitieren (Stier und Schütze). Die Kunst verliert mit Dan Graham einen im besten Sinn verstörenden Geist.

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