Nachruf auf Hermann Nitsch:Blutbürger

Nachruf auf Hermann Nitsch: Hermann Nitsch in seinem Museum. Am 18. April starb der österreichische Maler und Bildhauer im Alter von 83 Jahren in einem Krankenhaus bei Wien.

Hermann Nitsch in seinem Museum. Am 18. April starb der österreichische Maler und Bildhauer im Alter von 83 Jahren in einem Krankenhaus bei Wien.

(Foto: Georg Hochmuth/dpa)

Die Grenzen des guten Geschmacks und der staatlichen Geduld hat er weit überschritten - zum Glück. Der Aktionskünstler Hermann Nitsch ist im Alter von 83 Jahren gestorben.

Von Till Briegleb

Menschen, die unbedingt provozieren wollen, sind häufig die größten Moralisten. Wenn also Hermann Nitsch, ein Marathon-Provokateur vor dem Herrn, über 60 Jahre scheinreligiöse Blutorgien veranstaltete, und dafür bis heute der Blasphemie und der Grausamkeit beschuldigt wird, dann ist das für alle weniger empfindlichen Menschen ein klarer Hinweis: Hier waltet priesterlicher Aufrüttelungswille mit dem Ziel des besseren Menschen. Sein "Orgien Mysterien Theater", die zentrale Aktion des österreichischen Kunst-Druiden, die er weit über hundert Male aufführte, verlangte von sich selbst, Erkenntnis und "tiefe annahme unserer tragischen wirklichkeit" heraufzubeschwören. Und dafür konnten natürlich nur radikale Symbole taugen.

Zuschauer dieser stunden- bis tagelangen Kunstrituale erlebten Prozessionen und Kreuzigungen, choreografierte Verschlingungen von lebendem und totem Fleisch, das Beschmieren nackter Körper mit Blut und Innereien, begleitet von überwältigender Musik, die Oratorien mit Jazz und dissonanter Klangmalerei verband. Nitsch lieh sich Inspirationen aus antiken und schamanistischen Zeremonien, die den Tod als Übergang feiern, aus Animismus und Satanismus, von Sigmund Freud und de Sade, und verband diese mit christlichen Liturgien und Symbolen. Mit dieser Privatmythologie schuf er sich ein eigenes Ritual, das vor allem und immer wieder nach Katharsis verlangte. Nach Reinigung durch die Bekanntschaft mit dem Extremen.

Nachruf auf Hermann Nitsch: Ein Malassistent von Hermann Nitsch schüttet rote Farbe auf einen Statisten der Bayreuther Festspiele. Das Bühnenbild der "Walküre" wurde 2021 von Nitsch gestaltet.

Ein Malassistent von Hermann Nitsch schüttet rote Farbe auf einen Statisten der Bayreuther Festspiele. Das Bühnenbild der "Walküre" wurde 2021 von Nitsch gestaltet.

(Foto: Enrico Nawrath/dpa)

Der gemütliche Mann mit dem langen Bart, der aussah wie der liebe Herrgott in Schwarz, begann seine Schule der Blutreinigung in jener Gruppe irrwitziger Österreicher, die mit Beginn der Sechzigerjahre in Wien die Grenzen des guten Geschmacks, der Anständigkeit und staatlichen Geduld so weit überschritten, dass einige von ihnen - so auch Nitsch - ins deutsche Exil fliehen mussten. Der Wiener Aktionismus kannte nichts, wenn es darum ging, Menschen zu schockieren, um ihnen vorzuführen, wie eingefahren und stumpf sie dahinlebten. Mit quälend unverständlichen Texten, Körperkunst, die bis zur Selbstverletzung reichte, und Aktionen, in denen alle Körperflüssigkeiten zur Anwendung kamen, entäußerte sich die Wiener Wut auf das Devote, Angepasste und Obrigkeitshörige in immer schrilleren Inszenierungen.

Nitsch begann in diesem Kreis 1962 Furore zu machen mit einer dreitägigen "Blutorgel"-Performance zusammen mit Otto Muehl und Adolf Frohner, bei der im Finale ein Schaf über Kopf gekreuzigt und ausgeweidet wurde. Seine berühmten "Schüttbilder", bei denen er Blut auf weiße Leinen goss, waren ebenfalls bereits Teil dieser Initiation in den Orden der Provokationskunst. Und von hier aus weitete Nitsch das Ritual im Bann des Todes immer weiter aus zu sakral anmutenden Mysterien, die in den Folgejahren große internationale Aufmerksamkeit erregten.

Guru der sanguinischen Bewusstseinserweiterung

Nitsch wurde zunächst mit den anderen Wilden des Wiener Aktionismus 1966 nach London zum legendären "Destruction Art Festival" von Gustav Metzger eingeladen, von wo aus seine streng nach Partitur organisierten Skandalaufführungen ein Echo vor allem in den USA fanden. In der intensiv mit performativen Formen der Kunst arbeitenden New Yorker Szene wurde Nitsch begeistert aufgenommen. Künstler wie Allan Karprow oder Carolee Schneemann arbeiteten hier mit ähnlich exzessiven körperbetonten Grenzüberschreitungen und Jonas Mekas lud ihn 1968 ein, in den USA seine Aktionen zu zeigen. Nitsch bezeichnete diese Reise als seinen "ersten wirklich großen Erfolg".

Ab 1971 war das Schloss Prinzendorf im österreichischen Weinviertel sein Bayreuth für das Gesamtkunstwerk Seelenreinigung. Der morbide Adelssitz, den seine Frau Beate für ihn gekauft hatte, wurde für die nächsten fünf Jahrzehnte das Epizentrum von Nitsch Arbeit wie für seine Verehrung. Manche mochten in dem Palast eher einen Tempel der Nitschanbetung sehen mit teils sektenhaften Zügen. Aber hier fanden eben auch die wichtigsten Aufführungen der "Orgien Mysterien Theaters" (OMT) mit teilweise bis zu 500 Mitwirkenden, drei Orchestern und Chören statt.

Nachruf auf Hermann Nitsch: Reinigendes Blutbad: Kreuzigungsszene bei einem Massenevent auf Schloss Prinzendorf im Sommer 1998.

Reinigendes Blutbad: Kreuzigungsszene bei einem Massenevent auf Schloss Prinzendorf im Sommer 1998.

(Foto: Cibulka/picture-alliance / dpa)

Seine Überwindung des Ekels zur Besinnung auf sich selbst und das Wesentliche inszenierte Nitsch stets nur mit Freiwilligen, die sich dem erschöpfenden Ritual der Prozessionen und des Eintauchens in Schlachtprodukte unterziehen wollten. Aber der Guru der sanguinischen Bewusstseinserweiterung pflegte hier auch einen anderen roten Saft. Der "Nitsch-Doppler", ein Bauernwein, der laut Nitsch "einen heiteren, frohen, gesunden Rausch" auslöse, kam mit handsigniertem Blutetikett ab 1982 in den Handel.

Nitsch' Kirche des reinigenden Blutbads wurde 1972 erstmals von Harald Szeemann zur documenta 5 eingeladen, zu deren Thema der "Individuellen Mythologien" er mit seinem "Orgien Mysterien Theater" die Königsdisziplin schuf. Spätestens mit seinem Auftritt dort, dem eine weitere Einladung zur siebten Ausgabe der Documenta folgte, fanden Nitsch radikale Ideen von Wandel durch die Berührung mit Totem Anerkennung in der globalen Kunstwelt. Allerdings teilte die oft weniger die eigenwilligen metaphysischen Glaubenssätze seiner Katharsis-Vorstellungen, als den Mut zum Extrem zu feiern.

Erst der Ekel, dann die Erkenntnis

Nach den anfänglichen Großerregungen um seine Auftritte, erschöpfte sich die Aufregung aber irgendwann auch in Gewöhnung, bis selbst die Katholiken und Tierschützer mit ihren selbstgemalten Protestschildern ausblieben. Erst mit dem Ruhm von Künstlerinnen und Künstlern der späteren Generation, die sich direkt auf Nitsch bezogen - etwa Christoph Schlingensief und Marina Abramović - erlebten auch Nitsch' Leidenswege eine Renaissance. Er zeigte das OMT in den Nullerjahren in Theatern, wobei die Aufführung im Wiener Burgtheater 2005 eine Art große Versöhnung zwischen Nitsch und der Stadt darstellte, die ihm zahlreiche Prozesse angehängt hatte.

Der Altmeister der Provokation, der bei seinen öffentlichen Auftritten vor allem mit Humor die Sympathien gewann, vermittelte auch als Professor an verschiedenen Akademien seine Vorstellungen von einer allumfassenden Kunsterregung mit spirituellem Horizont. Sein anregender Einfluss verbreitet sich vorbildhaft für alle Künstlerinnen und Künstler, die Grenzen überschreiten wollen, und dabei eine moralische Idee von Leben in Einklang verfolgen. Am Ostermontag hat der Orgienpriester des heilenden Exzesses im Alter von 83 Jahren nun den Übergang des Todes selbst erlebt. Das Datum könnte nicht schöner getroffen sein für einen von der Kreuzigungsgeschichte besessenen Erlöserkünstler.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusBiennale in Venedig
:"Mehr als ein Schnappschuss"

Die künstlerische Leiterin der Biennale di Venezia, Cecilia Alemani, über ihre Weltkunstschau zwischen Corona und Krieg.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: