Obdachlosigkeit:Die da unten sieht man nicht

Obdachlosigkeit: Wie viele Menschen in Berlin kein Dach über dem Kopf haben, weiß niemand so genau. Eine Zählung soll das ändern - doch das Vorgehen ist umstritten.

Wie viele Menschen in Berlin kein Dach über dem Kopf haben, weiß niemand so genau. Eine Zählung soll das ändern - doch das Vorgehen ist umstritten.

(Foto: via www.imago-images.de/imago images/serienlicht)

In Berlin sollen Freiwillige zählen, wie viele Menschen auf den Straßen der Stadt leben. Es ist ein bundesweit einmaliges Projekt. Kritik kommt von den Betroffenen selbst.

Von Jan Heidtmann, Berlin

Berlin gilt als Hauptstadt der Obdachlosigkeit, in keiner anderen Metropole Deutschlands leben so viele Menschen auf der Straße. Wie viele dies tatsächlich betrifft, das weiß jedoch keiner so genau. 8000 bis 10 000 Menschen in der Stadt hätten kein festes Dach über dem Kopf, so wird vermutet. Doch "dieses Fühlen und Schätzen, das ist ein unhaltbarer Zustand", meint Susanne Gerull, Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule. Das soll sich nun ändern. Gemeinsam mit Vertreterinnen vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit (VskA) stellte sie am Freitag die letzte Phase eines bundesweit einmaligen Projektes vor: Freiwillige zählen Obdachlose.

Ziemlich genau in einem Monat, in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni, sollen rund 2000 Berliner in der gesamten Stadt unterwegs sein, um die Menschen, die unter Brücken, in Hauseingängen oder in Parkhäusern schlafen, zu erfassen. Diese sogenannte "Zeit der Solidarität" wird von der Berliner Sozialverwaltung unterstützt und hat ihre Vorbilder in anderen Metropolen. So wird in Boston beim "Homeless Census" bereits seit 40 Jahren die Zahl der Wohnungslosen ermittelt, in New York gibt es ein ähnliches Programm seit 2005, in Paris wurden die Obdachlosen bei der "Nuit de la Solidarité" in diesem Jahr zum fünften Mal gezählt.

Denn anders als viele andere soziale Randgruppen beziehen die meisten Obdachlosen keine regelmäßige Unterstützung, ein größerer Teil von ihnen meidet zudem die städtischen Unterbringungen. "Wir werden wohnungslose Menschen nicht dazu zwingen können und wollen, sich zu registrieren", sagt Gerull. Doch ohne zu wissen, wie viele Menschen auf der Straße leben, ohne deren Alter zu kennen oder, ob es sich um Männer oder um Frauen handelt, ließe sich nicht vernünftig helfen.

Kritiker halten die Zählung für würdelos und kaum aussagekräftig

Die "Zeit der Solidarität" ist der zweite Anlauf Berlins, einen Überblick über das Ausmaß der Obdachlosigkeit in der Stadt zu bekommen. Eine Zählung im Januar 2020 hatte vor allem eine Überraschung mit sich gebracht: Damals trafen die Freiwilligen gerade einmal knapp 2000 Menschen an, die in dieser Nacht obdachlos waren. Das lag weit unter den Schätzungen von bis zu 10 000 Betroffenen. Stefan Schneider von der Wohnungslosenstiftung, einer Initiative zur Selbstvertretung von Wohnungslosen, glaubt die Gründe dafür zu kennen. Viele Obdachlose wollten nicht gezählt werden und würden sich vor den Freiwilligen verstecken. Sie empfänden den Vorgang als "würdelos", es ginge ihnen so wie ihm selbst: "Ich verstehe den Sinn dieser Zählung nicht."

Die mageren Zahlen aus der ersten Erhebung haben Schneider in seiner Kritik nur bestätigt, das Ergebnis der nächsten Erhebung könne er sich schon vorstellen. "Jetzt wird mit großem Aufwand bei T-Shirt-Wetter festgestellt, dass angeblich nur 1200 Menschen in Berlin auf der Straße leben. Das bringt doch nichts." Die "Zeit der Solidarität" habe vor allem Alibifunktion, stattdessen "muss die Frage doch sein, wie wir die Obdachlosigkeit nachhaltig bekämpfen können." Die Betroffenen sollten nicht als Hilfeempfänger, sondern als Mitbewohner dieser Stadt gesehen werden. Schneider: "Wir müssen weg von dieser Kältehilfeökonomie."

Tatsächlich hat die Senatsverwaltung für Soziales einiges an der Kritik und aus den Erfahrungen der ersten Zählung aufgenommen. Vor allem organisiert sie die "Zeit der Solidarität" nicht mehr selbst, sondern der VskA, ein Verband für Nachbarschaftsarbeit. Die Gelder von 250 000 Euro für die Zählung und Veranstaltungen, zum Beispiel mit der Landeszentrale für Politische Bildung, kommen von der Lotto-Stiftung. Und natürlich sei klar, dass die Erhebung "die Wohnungslosenpolitik nicht ersetzt", sagt Alexander Fischer, Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Soziales.

Der größte Teil der Betroffenen stammt nicht aus Deutschland

Doch gerade dafür habe die erste Zählung im Januar 2020 gute Erkenntnisse geliefert, meint Fischer. Darunter, dass mehr als die Hälfte der Obdachlosen selbst mitten im Winter nicht in den Unterbringungen der Kältehilfe angetroffen worden seien. Das zeige, dass die Angebote verbessert werden müssten. Zudem stammte der größte Teil der Betroffenen nicht aus Deutschland, sondern aus anderen EU-Staaten. Deshalb seien mehrsprachige Helfer wichtig. Zudem habe sich gezeigt, dass Frauen, die 14 Prozent der Obdachlosen ausgemacht hätten, oft mit Partnern leben würden. Das Angebot an Unterbringungen müsse da ausgebaut werden.

Fischer glaubt daher nicht, "dass die Kritik grundsätzlich gegen die Zählung spricht". Da "Wohnungslosigkeit ein äußerst dynamisches Phänomen ist", hoffe er vielmehr, dass von nun an regelmäßig gezählt werden wird; die Mittel dafür seien bereits in den nächsten Haushalt eingebracht. Es gehe darum, die Erhebung "zu einem Projekt der Stadtgesellschaft zu machen", sagt Fischer.

Beim VskA hat man sehr konkrete Schlüsse aus der Kritik an der ersten Erhebung gezogen. So sollen die Freiwilligen diesmal nicht in Fünfergruppen, sondern nur zu dritt Obdachlose befragen. Das wirke weniger bedrohlich. Außerdem seien die Schulungen der Zählenden verbessert worden; nach Möglichkeit sollen auch Obdachlose selbst mithelfen, die Freiwilligen zu sensibilisieren.

Trotzdem ist offen, ob die Zählung im Juni stattfinden wird: 2020 gab es wesentlich mehr Bewerbungen von Freiwilligen als in diesem Jahr. Der Grund dafür seien die Nachwehen der Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine. "Wir haben den Eindruck, dass die Aufmerksamkeit derzeit bei den weltweiten Krisen liegt", sagt Barbara Rehbehn, Geschäftsführerin des VskA. Sollten nicht genügend Freiwillige zusammenkommen, müsste die Zählung in den nächsten Januar verlegt werden.

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