Gesetzentwurf zur Triage:"Patienten, die dann neu kommen, würden in vielen Fällen sterben"

Covid-Patient im Bundeswehrkrankenhaus Westerstede. Was tun mit Unfallopfern oder Infarktpatienten, wenn die IV-Stationen voll sind?

Covid-Patient im Bundeswehrkrankenhaus Westerstede. Was tun mit Unfallopfern oder Infarktpatienten, wenn die Intensivstationen voll sind?

(Foto: Martin Meissner/AP)

Sollten Ärzte die Behandlung eines Patienten abbrechen dürfen zugunsten eines anderen, der bessere Überlebenschancen hat? Die Bundesregierung sagt Nein. Die Rechtsphilosophin Tatjana Hörnle sieht in der Entscheidung eine große Gefahr.

Interview von Michaela Schwinn

Wer bekommt das letzte Bett auf der Intensivstation - der Covid-19-Patient oder der mit dem Herzinfarkt? Seit die Pandemie das deutsche Gesundheitssystem immer wieder ans Limit bringt, wird auch um die Frage der Triage gerungen - also darum, wer zuerst medizinisch versorgt wird, wenn die Ressourcen im Krankenhaus knapp sind. Ein neuer Gesetzentwurf will Klarheit bringen - demnach soll vor allem ein Kriterium entscheidend sein: die Überlebenswahrscheinlichkeit. Alter, ethnische Herkunft oder Behinderung dürften nicht zur einer Schlechterstellung führen. Auch wurde die sogenannte Ex-post-Triage ausgeschlossen. Das bedeutet, dass Behandlungen nicht zugunsten anderer Patienten abgebrochen werden dürfen - selbst wenn diese bessere Überlebenschancen hätten. Die Freiburger Rechtsphilosophin Tatjana Hörnle hat sich intensiv mit dem Thema Triage auseinandergesetzt.

SZ: Frau Hörnle, was kritisieren Sie an den Plänen der Regierung zur Triage?

Tatjana Hörnle: Den Grundsatz des Gesetzentwurfs finde ich richtig: Nämlich, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit von Patienten darüber entscheidet, wer zuerst medizinisch versorgt wird, wenn die Ressourcen nicht mehr für alle reichen. Aber ein Punkt bereitet mir Bauchschmerzen: In dem Entwurf wird die Ex-post-Triage explizit verboten - also, dass Ärzte die Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen mit besseren Überlebenschancen abbrechen dürfen. Sollte das Gesetz tatsächlich so kommen, könnten die Folgen katastrophal sein.

Inwiefern?

Problematisch wird es, wenn man von einem Extremszenario ausgeht: Die Zahl der Covid-19-Erkrankten steigt stärker und schneller an, als wir es bisher erlebt haben. In der ersten Phase könnten die Ärzte noch nach Überlebenschance auswählen, wer einen Platz auf der Intensivstation bekommt - so wie es das Gesetz vorsieht. Aber irgendwann wären alle Intensivbetten belegt, auch weil Covid-Kranke längere Liegezeiten haben. Patienten, die dann neu ankommen, etwa mit einem Herzinfarkt, Schlaganfall oder nach einem Verkehrsunfall, würden alle abgewiesen und in vielen Fällen sterben. Obwohl sie eine deutlich höhere Chance zu überleben hätten, als manche Patienten, die schon länger auf der Intensivstation liegen. Das wäre verheerend.

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Es müsste eine regelmäßige Neubewertung der Fälle geben. Das heißt, dass Entscheidungen revidiert werden können, wenn Behandlungsplätze knapp sind und Patienten ankommen, die sehr viel bessere Erfolgsaussichten haben.

Dann könnte etwa einem Covid-Patienten das Beatmungsgerät entzogen werden, um einen anderen Patienten zu behandeln. Das sei "ethisch nicht vertretbar", sagen der Bundesgesundheitsminister und viele Mediziner.

Das darf im Normalfall nicht passieren. Aber wir reden über eine Situation, die vom Normalfall sehr weit entfernt ist. Wir reden über ein echtes Dilemma, bei dem es keine befriedigende Auflösung gibt. Wenn man die Menschen ganz abstrakt fragen würde: Dürfen Krankenhausplätze wieder weggenommen werden, dann wäre die Antwort: Nein, auf keinen Fall. Würde man die Frage aber umformulieren: Was, wenn dadurch die Intensivstationen über Wochen zu wären, auch für die Mutter nach einem Herzinfarkt oder den Partner, der einen Autounfall hatte? Dann würde sich die Bewertung wahrscheinlich ändern.

Gesetzentwurf zur Triage: Tatjana Hörnle ist seit 2019 Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg im Breisgau.

Tatjana Hörnle ist seit 2019 Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg im Breisgau.

(Foto: Markus Scholz)

Auch für Ärzte wäre die Ex-post-Triage eine extreme Belastung. Eine solche Entscheidung sei unzumutbar, hieß es kürzlich auf dem Deutschen Ärztetag.

Natürlich ist diese Art der Triage auch unter Ärzten umstritten. Aber die Divi, die deutsche Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, hat in ihren klinisch-ethischen Empfehlungen eine solche Neubewertung vorgesehen. Es entspricht der Grundlogik von Notfallmedizin, dass man auf wechselnde Parameter reagieren muss. Das geplante Gesetz würde Ärzte und Ärztinnen zwingen, Menschen mit schlechten Überlebenschancen lange weiter zu behandeln, während sie Menschen, denen sie helfen könnten, im Stich lassen müssen. Das kann auch für die Behandelnden keine gute Situation sein.

Dürften Mediziner aus rechtlicher Sicht die Behandlung überhaupt zugunsten eines anderen Patienten abbrechen?

Im Moment besteht bei der Ex-post-Triage tatsächlich Rechtsunsicherheit, weil es keine spezielle gesetzliche Regelung gibt. Nach geltendem Recht würden Ärzte, die reevaluieren, riskieren, wegen Totschlags angeklagt zu werden. Meines Erachtens sollte der Gesetzentwurf die Neuzuteilung von intensivmedizinischen Behandlungsplätzen zulassen, dann wäre auch die strafrechtliche Lage eindeutig geklärt. Natürlich hoffen wir alle, dass die beschriebene Situation geschlossener Intensivstationen nie eintreten wird, auch dann nicht, wenn der Entwurf zum Gesetz würde. Besser wäre es aber, Gesetze zur Triage so zu fassen, dass sie auch für solche Extremlagen passen.

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