Literatur:Lieber wegsehen

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Manifestation des Hasses: ein brennendes Auto in Rostock-Lichtenhagen. (Foto: Bernd Wüstneck/dpa)

Anlässlich der Jahrestage des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen wurde Leonhard Seidl Romandebüt "Mutterkorn" neu aufgelegt.

Von Anna Steinbauer, München

Zwischen dem 22. und 26. August 2022 jährt sich das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen zum dreißigsten Male. Die gewalttätigen Ausschreitungen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter im sogenannten Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen gehören zu den massivsten rassistisch sowie fremdenfeindlich motivierten Angriffen in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Mehrere Hundert rechtsextreme Randalierer steckten das Wohnheim in Brand mit dem Ziel, Geflüchtete und Hilfskräfte zu vertreiben oder zu töten. Polizei und Feuerwehr griffen aufgrund mangelnder Ausrüstung und fehlendem Personal gar nicht oder nur zurückhaltend ein. Für den 1976 in München geborenen Autor Leonhard Seidl und seinen Verlag waren dies einschneidende Ereignis und der Jahrestag ein Grund, sein Romandebüt "Mutterkorn" erneut aufzulegen.

Auch für den Protagonisten Albin O. markieren die schrecklichen Übergriffe und der rechte Terror in Rostock-Lichternhagen einen Wendepunkt im Leben des zu diesem Zeitpunkt 16-jährigen Punks: Er stellt für sich fest, dass er seine pazifistische Grundeinstellung angesichts der Ungerechtigkeit und des Leides, das den geflüchteten Menschen widerfährt, aufgeben muss: "Und wenn der Staat die Flüchtlinge nicht vor den Faschos schützen kann, müssen wir es eben tun. Zur Not auch militant", sagt er im Buch zu seiner Freundin. Albin arbeitet als Altenpfleger, schon früh radikalisiert und politisiert er sich, weil er nicht damit einverstanden ist, wie der Staat alte und benachteiligte Menschen behandelt, nicht nur einmal erfährt er rechte Gewalt am eigenen Leib.

Der Roman legt schockierende Strukturen offen, die in der Bundesrepublik noch immer vorherrschen

Seidl beschreibt in "Mutterkorn" die Geschichte eines in der linken Szene engagierten jungen Punks, der an einem ungerechten System verzweifelt, sich in Drogenexzesse flüchtet und mit einem tragischen Schicksalsschlag zu kämpfen hat. "Er zeigt auch, wie junge Menschen an der Situation im Land zerbrechen können. Wie die kleinen Fluchten zur großen Flucht werden können", formuliert es Leander Sukov, der stellvertretende Bundesvorsitzende des Verbandes deutscher Schriftsteller, in seinem Vorwort zum Roman. In dem Moment, in dem Albin in einer Therapieeinrichtung landet und sein Leben wieder in die Hand nehmen will, ist er plötzlich wieder umgeben von denen, die mit Terror und Mord den Staat zerstören wollen.

Seidls in der Zeit geschickt hin und her springender Roman legt schockierende Strukturen offen, die in der Bundesrepublik noch immer vorherrschen und die man selten in einer solchen Klarheit formuliert gelesen hat: Es geht um Polizeigewalt gegen links bei Demos und Protesten, das bewusste Ignorieren von Rassismus im behördlichen Umgang mit Neonazis, Toleranz gegenüber rechter Täterschaft und Kriminalisierung von Opfern rechter Gewalttaten. Ob 1990 in Rostock-Lichternhagen, wo die Täter der NSU-Mordserie Böhnhardt und Zschäpe frühzeitig rechtsextrem sozialisiert wurden, oder in jüngerer Vergangenheit die Anschläge auf die Synagogen in Halle und Hanau: Dieselben traurigen Geschichten wiederholen sich. Bei aller Fiktion ist das doch die bittere Wahrheit, die bleibt.

Leonhard Seidl: "Mutterkorn", Verlag Kulturmaschinen, 170 Seiten

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