Nachrichten bei der SZ:Im Strom der Turbulenzen

Nachrichten bei der SZ: Am Newsdesk der "Süddeutschen Zeitung", hier mit Reymer Klüver, Alexandra Föderl-Schmid, Carolin Werthmann und Jens Schneider (v.l.), laufen die Fäden zusammen.

Am Newsdesk der "Süddeutschen Zeitung", hier mit Reymer Klüver, Alexandra Föderl-Schmid, Carolin Werthmann und Jens Schneider (v.l.), laufen die Fäden zusammen.

(Foto: Stephan Rumpf)

Seit Beginn des digitalen Zeitalters hat die tägliche Berichterstattung weder Anfang noch Ende. Die Arbeit geht einfach immer weiter.

Von Nicolas Richter

Für die aktuelle Berichterstattung ist bei der Süddeutschen Zeitung der Nachrichtenchef verantwortlich. Wie so viele Titel ist auch der des Nachrichtenchefs irreführend: Nachrichten haben nämlich gar keinen Chef. Sie sind unzähmbar wie der Wind oder das Meer. Würde jemand behaupten, er sei Chef des Windes, würde man ihm Medikamente verschreiben. In manchen Ländern, sagen wir in Russland oder China, glauben die Staatschefs, sie seien auch Chefs der Nachrichten. Das funktioniert so lange, bis die Chefs gestürzt, ausgeliefert oder sonst abberufen werden und insofern selbst zur Nachricht werden.

Anderswo, in Deutschland etwa, tun die Nachrichten, was ihnen beliebt, sie kommen und gehen, wann sie wollen. Der Nachrichtenchef der SZ-Redaktion ist so gesehen eher der Chefgetriebene der Nachrichten: Am späten Nachmittag zum Beispiel bildet er sich ein, mit der Arbeit fertig zu sein, weil alles Aktuelle auf der Homepage, in der Digitalausgabe und in der gedruckten Zeitung steht.

Dann stirbt Maradona, oder die Queen, oder es fliegt der Hafen von Beirut in die Luft, und der Nachrichtenchef beginnt von vorne: Treffen die Meldungen zu? Wer schreibt die Nachricht? Gibt es Bilder oder Videos? Wer kann so schnell wie möglich am Ort des Geschehens sein und recherchieren?

Nachrichten sind ein ewiger Strom voller Turbulenzen, ohne Anfang oder Ende. Früher hatte immerhin die Berichterstattung einen Anfang und ein Ende: Als es die Zeitung nur auf Papier gab, konnte die Redaktion gegen 23 Uhr letzte Änderungen an die Druckerei schicken, dann war es vorbei bis zum Nachmittag des nächsten Tages. Wäre einmal um 23.01 Uhr der Papst gestorben, so hätte man erste Teile der Leserschaft frühestens 19 Stunden später darüber unterrichten können, was weder der Leserschaft noch dem Papst gerecht geworden wäre, es sei denn, man hätte aufgrund des enormen Zeitablaufs schon den Nachfolger gekannt.

0 Uhr

Heute lässt sich die Frage nach dem Arbeitsbeginn nicht mehr beantworten, weil die Arbeit immer weitergeht. Seit Beginn des digitalen Zeitalters vor einem Vierteljahrhundert hat die Berichterstattung der SZ weder Anfang noch Ende. Um 0 Uhr, wenn ein neuer Tag beginnt, sitzt eine SZ-Redakteurin oder ein SZ-Redakteur, "Nachtpilot" genannt, vor einem Bildschirm und beobachtet das Weltgeschehen. Sollte in der Nacht die US-Bundespolizei das Anwesen von Donald Trump durchsuchen oder sollten in Asien die Börsenkurse abstürzen, schreibt der Nachtpilot eine Nachricht, damit die Leserinnen und Leser der SZ dies erfahren, wenn sie frühmorgens auf ihr Smartphone blicken.

Weil es auf Dauer ungesund wäre, die Nächte durchzuarbeiten, sitzt der Nachtpilot an der Westküste der USA mit dem Vorteil von neun Stunden Zeitverschiebung zu Europa. Wenn die Menschen in München oder Berlin aufwachen, ist es bei ihm noch später Abend, weswegen er streng genommen gar kein Nachtpilot ist, sondern in den Sonnenuntergang hineinfliegt.

In München wiederum beginnt die erste Schicht um 4.30 Uhr, da entsteht der Newsletter "SZ am Morgen", und manchmal beginnt die erste Schicht noch früher, wenn es die Lage erfordert. Im November 2020 bin ich einmal um halb vier ins Büro gefahren, weil wir erste Ergebnisse der US-Präsidentenwahl erwarteten und die Leserschaft frühmorgens darüber unterrichten wollten, ob sie Trump noch vier weitere Jahre würde ertragen müssen. Im Büro stellte sich dann allerdings heraus, dass über Nacht das Internet ausgefallen war, weswegen ich auf dem leeren Mittleren Ring wieder nach Hause fuhr. Die Stimme im Autoradio sagte, dass es bei der US-Wahl noch keinen klaren Trend gebe. Wie gesagt - Nachrichten haben keinen Chef.

7 Uhr

Wenn der Nachtpilot ins Bett geht, planen wir am News Desk (so heißt bei uns die Nachrichtenzentrale) den neuen Tag. Als Erstes blicken wir kritisch auf unsere Homepage. Steht alles drauf, was aktuell passiert ist? Haben die geschätzten Konkurrenten der Frankfurter Allgemeinen etwas, das uns fehlt? Stehen die relevantesten Themen ganz oben?

Bei Nachrichten gibt es, wie bei Menschen, eine Hierarchie: Es gibt die wichtigen, die nicht so wichtigen und die, die nicht so wichtig sind, sich aber für wichtig halten. In der Redaktion fragen wir uns also stets, für wie wichtig wir bestimmte Ereignisse halten und was wir dann mit ihnen "machen". Also was machen wir damit, dass Scholz bei Putin anruft (wichtig), oder mit dem neuen Sicherheitskonzept für die Wiesn (mittelwichtig) oder damit, dass Harry und Meghan beim Besuch in Düsseldorf ein Brot überreicht bekommen sollen (pseudo-wichtig). So wird das Durcheinander der Aktualität stets neu gewichtet und vermessen: Ist es neu? Ist es relevant? Ist es exklusiv? Nachtpiloten und Nachrichtenchefs mögen den Winden ausgesetzt sein, aber sie fliegen nicht orientierungslos durch die Gegend. Es gibt Orientierungspunkte auf dem Radarschirm.

Insgesamt scheint das Welt- und Nachrichtengeschehen turbulenter geworden zu sein. Anfang des Jahrtausends biss sich der deutsche Politikbetrieb wochen-, ja monatelang an Dingen wie Dosenpfand oder Zahnersatz fest. Für solche, damals so genannte Reizthemen wäre man heute dankbar, da sich immer größere Krisen immer öfter abwechseln. Allein in den vergangenen zwei Jahren gab es den Putsch-Versuch Trumps und den Sturm aufs Kapitol, die "Jahrhundertflut" in Deutschland, den Umsturz in Afghanistan, den Angriff auf die Ukraine, Putins Atomdrohungen. Die Energie- und Wirtschaftskrise soll Deutschland größtenteils noch bevorstehen. Und obendrauf die Corona-Krise, die mal als schwerste seit dem Zweiten Weltkrieg galt, diesen Titel aber schon wieder weitergereicht hat. Leider ist in dieser Liste vieles angelegt, das die Welt noch länger begleiten dürfte - politischer Extremismus, Pandemien, Klimakrise.

12 Uhr

Wenn wir für den Mittag planen, stellen wir uns vor, dass Leserinnen und Leser in die Mittagspause gehen und mit einem Blick auf ihre SZ-App wissen möchten, was am Vormittag passiert ist und was das für sie bedeutet. Und vielleicht möchten sie in der Kantine mit Kommilitonen oder Kolleginnen über die Nachricht des Tages diskutieren. Für den Mittag planen wir also frische Nachrichten und Einordnungen sowie einen Kommentar, den wir informell "Meinung am Mittag" nennen. Allein: Wie soll man am frühen Morgen wissen, was die Leserschaft später interessiert?

Nun war es in Redaktionen schon immer so, dass viele Redakteurinnen und Redakteure zu wissen glaubten, was "die Leute" draußen interessierte. Heute allerdings sind Nachrichtenchefs und deren Teams nicht mehr auf Mutmaßungen angewiesen, denn inzwischen lässt sich genau messen, welche Artikel wie gelesen werden - das ist ein starker Hinweis darauf, wo es Bedarf nach Aufklärung und Einordnung gibt. Neben der harten Politik können das durchaus auch sehr lebensnahe Fragen sein (Welche Corona-Regeln gelten jetzt?) oder jene, was von der Rückkehr Robert Lewandowskis im Trikot des FC Barcelona zu erwarten ist.

Die Zahlen zeigen, dass Leserinnen und Leser je nach Tageszeit unterschiedliche Bedürfnisse haben. Wer morgens aufwacht, möchte kurz und knapp erfahren, was in der Nacht passiert ist und was am Tag bevorsteht. Im Laufe des Tages wächst der Bedarf an Einordnung und Analyse. Und am Abend sind Artikel gefragt, die hintergründigen Lesegenuss bieten und Entspannung. Die Kriterien für eine gute Geschichte - neu, relevant, anschaulich - sind um eines reicher geworden: Wichtig ist, dass jede Geschichte zum richtigen Zeitpunkt erscheint.

Umgekehrt gibt es Zeitpunkte, zu denen manche Geschichten nicht erscheinen sollten. Einmal haben wir morgens prominent auf der Homepage eine Geschichte über männliche Gesundheit veröffentlicht, die zwar solide recherchiert war, aber wie ein Urologie-Seminar anmutete. Das war keine so gute Idee, wie etliche Reaktionen zeigten. Es gibt bestimmte Vorstellungs- und Begriffswelten, in die man morgens nicht entführt werden möchte, erst recht nicht vor dem ersten Kaffee.

17 Uhr

Früher war 17 Uhr die Zeit, mit der das Tagesgeschäft bei der SZ weitgehend endete. Um 17 Uhr kam der Chefredakteur zum Nachrichtenchef und ließ sich die Titelseite zeigen. Dann grummelte er, dass er dieses Thema schräg oder jene Überschrift unverständlich finde. Dieses Gegrummel war gewissermaßen die akustische Ankündigung des nahenden Feierabends. Heute beraten wir zwischen 16 und 17 Uhr nicht nur über die Titelseite, sondern auch darüber, wie es weitergeht, denn anders als in der Nord-Stream-Röhre geht es im Nachrichtengeschäft immer weiter: Schreibt jemand am Abend noch über die Corona-Krisenrunde zwischen Kanzler und Ministerpräsidenten? Verschicken wir an Nutzer der SZ-App einen Hinweis auf die spannende Reportage aus der Ukraine? Erklären wir früh am nächsten Morgen, was vom Autogipfel zu erwarten ist?

Am glücklichsten aber ist der Nachrichtenchef noch immer, wenn er selbst eine Nachricht zu bieten hat, also eine Exklusiv-Geschichte. Eine Redaktion kann das Weltgeschehen abbilden und einordnen und insofern darauf reagieren, sie kann und sollte mit Exklusiv-Geschichten der Leserschaft aber auch selbst etwas Neues mitteilen. Sie kann die Staatsanwaltschaft zu einer Reaktion zwingen, indem sie Betrügereien mit Corona-Tests enthüllt, sie kann eine politische Debatte auslösen, indem sie ein Interview mit Markus Söder führt, der beiläufig Fracking in Niedersachen fordert. Und sie kann die Wahrheit hinter der Fassade zeigen, indem sie zum Beispiel die Wildwest-Methoden der Taxi-Alternative Uber enthüllt. An guten Tagen ist eine Redaktion nicht nur von der Aktualität getrieben, sondern trägt zur Aktualität selbst etwas bei.

0 Uhr

Um Mitternacht übernimmt wieder der Nachtpilot, der in Amerika vor seinem Bildschirm sitzt. Er steuert die Homepage durch die Nacht und ist ein Sinnbild für Nachrichtenredakteure in aller Welt: Es ist nie ganz klar, welche Themengebiete man überfliegen wird und wie heftig die Turbulenzen werden. Aber solange der Kompass gut ist und der Nachrichtenstrom unter den Flügeln nicht abreißt, kann eigentlich nichts schiefgehen.

Zur SZ-Startseite
77 Jahre Süddeutsche Zeitung

Jubiläum
:Wir feiern 77 Jahre SZ

Blicken Sie hinter die Kulissen von Deutschlands größter Qualitätstageszeitung. Und lesen Sie, was Prominente über die SZ zu sagen haben.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: