Regisseur Jean-Marie Straub ist tot:Ein Revolutionär

Regisseur Jean-Marie Straub ist tot: Jean-Marie Straub im Jahr 2017 beim Festival in Locarno, wo er für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

Jean-Marie Straub im Jahr 2017 beim Festival in Locarno, wo er für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

(Foto: Urs Flueeler/Picture Alliance)

Der französische Regisseur Jean-Marie Straub ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

Von Fritz Göttler

Seine letzten Filme sind versonnene Promenaden, kleine Exkurse in große Texte des 20. Jahrhunderts, Kafka und Pavese, aber auch verkannte Schreiber wie Maurice Barrès, der die Vorlage lieferte für "Lothringen!", 1994, oder Georges Bernanos, nach dem der letzte Film entstand, "La France contre les robots", 2020. Gefilmt war das in Straubs Heim oder auf Spaziergängen in der Umgebung, am Ufer des Genfer Sees, ganz in der Nähe von Rolle, wo auch Godard lebte, der vor wenigen Monaten gestorben ist. Zwei große tote Filmemacher, zwei Außenseiter, die auf ihren ganz individuellen Wegen das gleiche Ziel hatten, die Bilder und Töne des Kinos am Leben zu halten.

Die meisten seiner Filme hat Straub mit seiner Frau Danièle Huillet gemacht, die 2006 gestorben ist - nach ihrem Tod war Barbara Ulrich an seiner Seite. Es waren komplizierte Produktionen darunter, auf diversen locations, viele in Italien. In Rom drehten sie "Die Augen wollen sich nicht zu jeder Zeit schließen oder Vielleicht eines Tages wird Rom sich erlauben seinerseits zu wählen", nach Corneilles "Othon", auf dem Palatin-Hügel und in den Gärten der Villa Doria-Pamphili. Die Oper "Moses und Aron", von Arnold Schönberg, wurde im alten Amphitheater von Alba Fucens in den Abruzzen gedreht, der Film ist dem RAF-Terroristen Holger Meins gewidmet, aber diese Widmung musste bei der TV-Ausstrahlung entfernt werden.

Er floh vor dem Militärdienst nach Deutschland, lebte lange in München

Diese Filme sind jeder gewöhnlichen Vorstellung von Literatur-'Verfilmung' konträr, auf eine entschiedene, konsequente, aber durchaus spielerische Weise, durch eine Lust am Text, aus der sie entstanden, und die sie beim Zuschauen vermitteln. Sie haben Achtung vor dem Text, reagieren sorgfältig auf seine Schwingungen und Rhythmen. Sich aufmachen zu Bildern, die Bilder vor der Sprache sind, hat Frieda Grafe das beschrieben, "keine Abbilder, sondern etwas Konzentrierteres, auch durchaus Monströses, das sich gegen die herrschende realistische Logik richtet, die mit dem bürgerlichen Denken zu eng verhandelt ist".

"Geboren under Capricorn", hat Straub einen kleinen 'Lebenslauf' begonnen, "am Sonntag nach der Epiphanias in der Geburtsstadt von Paul Verlaine ... und getauft auf den Namen eines der allerersten Militärdienstverweigerer (Jean-Marie Vianney, Pfarrer von Ars), das Jahr, wo Hitler an die Macht kam ...": 8. Januar 1933 also, in Metz.

Die Koordinaten dieses Lebens und Werks sind damit abgesteckt, die französische Literatur und Kultur, eine eigentümliche Beziehung zur katholischen Kirche, ein strikter Antifaschismus. Straub wurde tätig in Filmclubs und schrieb Kritiken, Filmemacher, die er verehrte, waren Robert Bresson, Kenji Mizoguchi, John Ford. Um dem Militärdienst und dem Einsatz im Algerienkrieg zu entgehen, ging Straub in den Sechzigern nach Deutschland. Er lebte lange in München, als Schwabing das Zentrum des jungen deutschen Films war. Er machte mit Huillet zwei Filme nach Heinrich Böll, der hatte ihnen die Rechte geschenkt, obwohl er natürlich mit den Filmen dann nicht zurechtkam, aber er engagierte sich trotzdem, damit die beiden ihr großes Projekt hinbekamen, 1967, "Chronik der Anna Magdalena Bach". Natürlich kam die bürgerliche Filmkritik der Sechziger überhaupt nicht klar mit dieser Vorstellung vom Kino. Helmut Färber und Herbert Linder haben in einem Heft der Zeitschrift Filmkritik die ambitioniert lächerliche Rezeption von damals einer minutiösen Lektüre unterzogen, man liest das immer noch mit absurdem Schauder.

Die Vorwürfe von damals, des Elitären, Unfilmischen, sind geblieben, meistens von Leuten, die offenbar wenig Spaß am Kino haben. Straub und Huillet nehmen Texte nicht als intellektuelle Gebilde, nehmen sie als Körper, lassen sie klingen und atmen. Sie schreiben die Passagen ab und skandieren sie mit verschiedenen Farben, schon in diesen 'Scripts' ist das Leben der späteren Filme präsent. Wochenlang arbeiten sie mit den Darstellern, meistens Laien, aber auch wenn sie Profis dabei haben, ist die List an den Texten gewaltig, wie in "Klassenverhältnisse", nach Kafkas unvollendetem Roman "Der Verschollene/Amerika", mit Mario Adorf, Laura Betti, Harun Farocki.

Es ist alles Originalton in diesen Filmen, unvergesslich das knarzende Rumpeln des Ochsenkarrens, auf dem in "Dalla nube alla resistenza/Von der Wolke zum Widerstand", der Seher Tiresias und Ödipus ihres Weges zockeln. Der Film, nach "Dialogen mit Leuko" von Cesare Pavese, ist 1978 ein Scharnier, die Hinwendung nach Italien, ins Offene, das heißt ins Mythische, Archaische. Die Welt der Menschen ist eine der blutigen Opfer, der Unterdrückung, der Gewalt, des Kapitalismus, aber die Götter sehnen sich in ihrer ätherischen, nebulösen Existenz trotzdem nach Erdenschwere - auf diese Dialektik kommen alle Straub/Huillet-Filme.

Von Pavese und Hölderlin her hat Straub auch seine kommunistische Utopie entwickelt, die schon vor Jahren die Zerstörung des Planeten durch die hemmungslose kapitalistische Ausbeutung beschwört. In einer Erklärung auf den Filmfestspielen in Venedig, wo er und Huillet 2006 einen Ehren-Löwen bekommen sollten, hat er ein letztes offenes Bekenntnis verlesen lassen und den Preis abgelehnt. Ein vehementer Text gegen Kapitalismus und Faschismus. Ein Text, der für Aufruhr sorgte, wie seinerzeit die Widmung an Holger Meins. Revolution bedeutet, sehr alten und vergessenen Dingen ihren Platz zurückzugeben - ein Satz von Charles Péguy, auch das ein vergessener, aber für ihn wichtiger Mann. Am Sonntag ist der Revolutionär Jean-Marie Straub in seinem Haus am Genfer See gestorben, wie unter anderem Le Monde berichtet, wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag.

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