Besser mitreden im Democracy Lab

Zuhören, debattieren, Lösungen finden - was wir bei unserem Diskurs-Experiment zur Wahl erlebt und gelernt haben

Deutschland im Wahljahr 2017: Wie geht es der Republik? Was beschäftigt die Menschen? Was muss sich ändern? Und wie kommen wir alle wieder besser miteinander ins Gespräch? Das wollten wir herausfinden - im Democracy Lab der SZ, einem Diskursexperiment zur Bundestagswahl.

Die politische Welt hat sich rasant und radikal verändert: Trump. Brexit. Flüchtlingskrisen. Die neue Rechte. Islamistische Anschläge. Propaganda und Populismus. Hass und Hetze. Fake News und Fatalismus. Es haben sich Fronten gebildet, entlang von Meinungen und Ideologien, Gräben ziehen sich nicht nur durch die politische Landschaft, sondern auch durch Freundeskreise und Familien.

Es wird geschimpft und geschmäht, gegiftet und gespottet. Oder man redet gar nicht mehr miteinander. Das schadet dem gesellschaftlichen Miteinander und der Demokratie. Weil ihre zentralen Bausteine wie Pluralismus, Toleranz, Meinungsfreiheit unter Beschuss stehen, weil ihr Schmierstoff - der konstruktive gesellschaftspolitische Diskurs - austrocknet, weil wichtige Themen und drängende Probleme zum Teil nicht mehr angemessen behandelt und verhandelt werden.

Was tun? Wir haben diesen Entwicklungen das Democracy Lab entgegengesetzt und kurz vor der Wahl (vorerst) zu Ende gebracht. Wie in einem richtigen Labor haben wir experimentiert – in jeder Phase. Zuerst wollten wir herausfinden, was die Deutschen bewegt. Im Netz und auf einer Reise durch die Republik haben wir Ihre Themen gesammelt. Im nächsten Schritt haben wir die Einsendungen ausgewertet und zur Abstimmung gestellt. Danach haben wir mit Ihnen über fünf Themen diskutiert und Lösungen entwickelt – online und offline. Wie genau wir das versucht haben und was die Teilnehmer erlebt und gelernt haben, lesen Sie im Folgenden.

Das muss sich in Deutschland ändern

Mit fremden Menschen Argumentationsketten aufbauen und zusehen, wie sie wieder zerschossen werden, eine Idee einwerfen, die zu einer zweiten oder dritten inspiriert, frustriert darauf warten, endlich mal wieder zu Wort zu kommen: Selten wird intensiv und konzentriert über gesellschaftliche Themen debattiert, obendrein mit zunächst unbekannten Gesprächspartnern. Da wird im Büro über den besten Entwurf diskutiert, abends über das beste Guacamole-Rezept oder die neue Bar im Viertel. Wenn es aber um soziale Ungleichheit geht? Um Umweltpolitik? Um das Bildungssystem? Dann verfolgen viele vielleicht noch die oft inszenierten Debatten der Talkshows – doch hält sich der Erkenntnisgewinn meist sehr in Grenzen.

Unser Angebot im Democracy Lab war deshalb: Selber mitreden und Lösungsansätze entwickeln – im konstruktiven Austausch.

An fünf Abenden haben wir in fünf Städten zu fünf Veranstaltungen eingeladen, bei denen fünf Themen diskutiert werden sollten:

  • Werte: Wie gelingt ein besseres Miteinander in Politik und Gesellschaft?
  • Flüchtlingspolitik: Was bringt das Land weiter?
  • Bildung: Was muss sich an unseren Schulen verbessern?
  • Umweltschutz: Was tun gegen den Klimawandel und für die Natur?
  • Soziale Ungleichheit: Wie wird Deutschland gerechter?

    Viele Betroffene, Kritiker, Experten, Interessierte kamen, stritten, hörten zu und redeten mit - und berichteten uns im Nachhinein, dass sie die intensiven Debatten als sehr bereichernd erlebt haben. "Die einmalige Möglichkeit, mit Menschen zu diskutieren, die ich nicht kenne, die alle woanders herkommen und hingehen, um für diesen Augenblick in einen intensiven Austausch zu treten, hat mir tatsächlich Demokratie näher gebracht“, schrieb uns eine Frau hinterher.

    Manche hatten aber auch den Eindruck, nicht all das losgeworden zu sein, was sie zu sagen hatten. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Menschen derart große Experimentierfreude im Namen der Demokratie an den Tag legen könnten. Und das gilt nicht nur für die Veranstaltungen, sondern auch für die Diskussionen im Netz, die es zu jedem Thema ebenfalls gab. Online wie offline, in Berlin wie in München, überall drehten sich die Debatten um das Thema: Was muss sich in Deutschland ändern?

  • Diskutiert vor Ort: Von Berlin bis München

    Fünf Themen hatten wir uns für die Veranstaltungswoche in der zweiten Phase des SZ-Democracy-Labs vorgenommen. In Berlin, unweit des Regierungsviertels, wo darüber entschieden wird, welche Richtung dieses Land einschlägt, sprachen wir über die Werte, auf denen alle Richtungsentscheidungen fußen sollten. In Sachsen, dem Bundesland, wo rechte Radikalisierung zuletzt mehrmals sichtbar wurde, wo Merkel für ihre Asylpolitik bisweilen angefeindet und angeschrien wird, dort setzten wir die Flüchtlingsfrage auf die Agenda. Tags drauf machte das Democracy Lab mit der Frage, was an den Schulen anders werden muss, in einer Kölner Gesamtschule Station. Im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf hatte die Bildungspolitik eine entscheidende Rolle gespielt; vieles, woran die Schullandschaft in Deutschland krankt, lässt sich dort begutachten. In Stuttgart, wo das Neckartor mit seinen katastrophalen Belastungswerten zum Symbol für eine Umweltpolitik geworden ist, die unter dem Druck der Autolobby versagt, diskutierten wir über Klimapolitik. Die Veranstaltungswoche beendeten wir in München mit einem Gespräch über soziale Ungleichheit. In der Hauptstadt des angeblichen Wirtschaftswunderlands Bayern leben schließlich nicht nur überdurchschnittlich viele Sehrgutverdiener, sondern eben auch sehr viele Menschen, die die absurd hohen Mieten nicht mehr bezahlen können und immer weiter an den Rand gedrängt werden.

    Berlin

    Am Tag nach dem TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz haben wir 20 Gesprächspartner an einen Tisch gebeten. Die Chefin der Berliner Nahverkehrsbetriebe war dabei, der Komiker Oliver Polak und der Schauspieler Ulrich Matthes. Ein Herr, der seit gut dreißig Jahren in einem Plattenbau in Marzahn lebt, eine evangelische Pastorin und die Integrationsforscherin Naika Foroutan. Politiker kamen natürlich, schließlich wollten wir über die Werte sprechen, an denen sich Regierungshandeln ausrichten sollte. Auch ein Mann von der AfD war dabei.

    In der Debatte, die sich wie das TV-Duell am Abend zuvor viel um das Thema Flüchtlinge und Integration drehte, wurde nicht nur diskutiert, ob wir womöglich “in den letzten Jahrzehnten Toleranz mit Gleichgültigkeit verwechselt haben”; sie wurde auch selbst zur Übung im Aushalten anderen Positionen, die des AfD-Politikers Frank-Christian Hansel zum Beispiel. Fünf Stunden diskutierten unsere Gäste miteinander, fundiert, sachlich, hitzig, pessimistisch und visionär. Das Fazit von Kulturvermittlerin Esra Küçuk zum Zustand des demokratischen Dialogs bringt auch den Grundgedanken des Democracy Labs auf den Punkt: “Es geht um die Frage, wie sehr wir einander wirklich zuhören.”

    Leipzig

    Wenn wir im Privaten Diskussionen führen, sind das allzu häufig Scheindebatten, weil wir dazu neigen, uns in Blasen zu bewegen, mit Menschen zu sprechen, deren Lebensentwürfe, Werte und Meinungen unseren ähneln. Die Idee des Democracy Labs war es, Menschen aus dieser Gesprächsgemütlichkeit herauszuholen und sie mit Vertretern konträrer Positionen zusammenzubringen - ganz so einfach war es allerdings nicht. Für alle Veranstaltungen des Democracy Labs konnte man sich online bewerben. Zur Flüchtlingspolitik-Debatte in Leipzig füllten etwa 1800 Menschen einen Fragebogen aus. Ziel war es, die Diskussionsrunde zu gleichen Teilen mit Skeptikern und Befürwortern des Regierungskurses zu besetzen.

    Leider waren nur drei Skeptiker bereit, ihre Ansichten im Gespräch zu vertreten. Die anderen hatten keine Kontaktdaten hinterlassen, nicht auf die Einladung reagiert oder abgesagt mit der Begründung, ihre Meinung wolle niemand hören. Doch es zeigte sich rasch, dass hier nicht wie befürchtet in einer linksliberalen Blase diskutiert wurde. Unter den Teilnehmern war ein Rentner, zunächst energischer Bedenkenträger, den es dann doch sehr interessierte, wie junge Akademiker die Flüchtlingsproblematik wahrnehmen. Und ein flüchtlingsfreundlich gesinnter Pfarrer zeigte sich nicht restlos überzeugt, dass “wir das wirklich schaffen".

    Es kamen Menschen mit vielfältigen Meinungen zusammen, die durchaus offen waren für Auseinandersetzung – und für Momente, deren Bedeutung weit über den Abend hinausreicht. Wenn zum Beispiel eine eher asylkritische Frau, die die Meinung vertritt, Flüchtlinge dürften nur bleiben, wenn sie arbeiten, mit einem Flüchtling ins Gespräch kommt, der genau das tun möchte, aber nicht darf. Der Mann, der in Syrien als Zahnarzt gearbeitet hat, braucht für eine Arbeitserlaubnis die Bestätigung eines Arbeitgebers, aber ohne Arbeitserlaubnis hat er bei Bewerbungen keine Chance. "Zurück kann ich ja nicht", sagte er. Die Frau nichts mehr.

    Köln

    Welche Aufgaben muss Schule bewältigen, damit die Integration von Zuwanderern gelingen kann? Wie sollte Unterricht auf die Smartphone-Ära reagieren? Nirgends, so dachten wir, ließen sich solche Fragen besser diskutieren als in einer Schule. An einem Abend versammelten sich also 59 Frauen und Männer auf dem Pausenhof einer Gesamtschule im Kölner Stadtteil Longerich - und verteilten sich alsbald auf drei Klassenzimmer, in denen jeweils ein bildungspolitisches Problemfeld diskutiert wurde. Die Versuchsanordnung im Kölner Labor sah eigentlich vor, dass die Teilnehmer zwischen den drei Räumen, zwischen den drei Debatten wechseln und mal hier oder dort mitdiskutieren. Dass die meisten die meiste Zeit in einem Klassenzimmer blieben, dürfte gegen das Konzept sprechen, aber für die Debatten.

    In den Räumen, wo sonst die Klassen 7b, 7c und 7d lernen, diskutierten die Teilnehmer gemeinsam mit Wissenschaftlern und Praktikern über mehrere Stunden. Hier ein Ausschnitt der Ideen und Gedanken, die in den Klassenzimmern entwickelt wurden:

    Integration im Klassenzimmer: Wie schaffen wir das?

  • Ganztagesklassen helfen Schülern, die zu Hause eine andere Sprache sprechen, ihre Deutschkenntnisse zu verbessern.
  • Wohnpolitik ist Schulpolitik - hier muss man ansetzen.
  • Es braucht eine pädagogische Ausbildung für Imame.

    Wer kein Abi macht, ist doof!?

  • Jedem das Abi schenken, damit keine Bewerbung mehr aussortiert wird – kann das eine Lösung sein?
  • An Haupt- und Realschulen sammeln sich Kinder, die zu Hause weniger Unterstützung bekommen. Diese Schulen sollen mehr Geld für kleinere Klassen, zusätzliche Psychologen und Sozialarbeiter erhalten.
  • Vorurteilen in der Lehrerausbildung muss entgegengewirkt werden.
  • Die akademische Ausbildung darf nicht zur Voraussetzung werden, an der Wissensgesellschaft teilzunehmen. Deshalb muss die berufliche Ausbildung künftig mehr theoretische Kenntnisse vermitteln.
  • Mathe, Englisch, Snapchat - brauchen wir Social Media als Unterrichtsfach?

  • Schule sollte Kindern einen analogen Schutzraum bieten - damit sie gerüstet sind für das Heranwachsen in der digitalen Welt.
  • Was Schule den Kindern beibringen kann, ist das "social" in Social Media.
  • Jeder Lehrer muss wissen, wie zum Beispiel Snapchat - oder das aktuell angesagte Medium - funktioniert.
  • Lesen Sie hier nach, zu welchen Lösungsansätzen die Diskussionsteilnehmer in Köln außerdem noch kamen.

    Stuttgart

    Was passiert, wenn man eine Diskussion Menschen überlässt, die man nicht kennt? Keinen Experten, keinen Politiker, keinen Lobbyisten hinzuzieht? Wenn man nur den Raum, Getränke und Häppchen zur Verfügung stellt, die Inhalte aber komplett den Teilnehmern überlässt? Wir wussten es nicht. “Open Space” heißt diese Methode, eine Diskussionsrunde zu gestalten. Der Amerikaner Harrison Owen hat sie in den Achtzigerjahren entwickelt, weil er sah, dass bei Konferenzen der inhaltlich nützlichste Teil oft die Kaffeepause war. So transferierte er die Kaffeepausen-Atmosphäre in den offiziellen Ablauf des Treffens.

    Was für die Stuttgarter Democracy-Lab-Station “Umweltschutz - Was tun gegen den Klimawandel und für die Natur?" hieß: Wir begrüßten 35 Gäste und überließen den Rest des Abends ihnen. Zu Beginn schlugen sie Themen vor, über die sie sprechen wollten. Per Abstimmung fiel die Wahl auf: 1. Zukunft der Mobilität in Stuttgart, 2. Ökologischer Fußabdruck vs. Komfortzone, 3. Umweltwirksamkeit und gesellschaftlicher Status, 4. Ernährung und Landwirtschaft. Die Teilnehmer suchten sich eine Debatte (jeweils moderiert von einem SZ-Redakteur) aus und wechselten nach Belieben. Es funktionierte. Die Menschen sprachen miteinander, tauschten sich aus, brachten sich gegenseitig auf neue Gedanken. Wie kann man Mitmenschen dazu bewegen, umweltbewusster zu leben? Was muss die Politik tun? Ist Umweltschutz immer auch Verzicht? Viele Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Aber wie ein Teilnehmer sagte beim Thema Mobilität: “In Stuttgart tut sich gerade viel, das Problembewusstsein ist da.”

    München

    In der Online-Abstimmung des SZ Democracy Labs war die soziale Gerechtigkeit das Thema, das die meisten - fast die Hälfte - aller Stimmen bekam. 40 Teilnehmer haben wir daraufhin ins SZ-Hochhaus in München eingeladen. Wer nicht direkt dabei sein konnte, konnte die Debatte via Facebook-Livestream verfolgen. Auftakt war ein Experten-Streitgespräch zur Erbschaftsteuer: Familienunternehmer Gerd Maas und der Ökonomieprofessor Guy Kirsch vertraten mit der Forderung nach der Abschaffung der Erbschaftsteuer und einer Erhöhung auf 100 Prozent zwei extreme Pole der Debatte.

    Im Anschluss haben wir Juso-Chefin Johanna Uekermann und den bayerischen Vorsitzenden der Jungen Union, Hans Reichhart, zu einem Schlagabtausch der etwas anderen Art gebeten. Moderator Dirk von Gehlen forderte sie in dem Format “Das ist deine Meinung” dazu auf, einmal nicht die eigene Meinung zu vertreten, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, sondern die Argumente des Gegenübers so vorzutragen, dass dieser sich darin wiederfindet – also Wahlkampf für die jeweils andere Seite zu machen. Eine zweite Runde dieses Rollentauschs spielten dann zwei Teilnehmer aus dem Publikum, die - ganz entgegen ihrer eigenen Meinung - für und gegen das bedingungslose Grundeinkommen argumentierten. Hinter dem Format steht der Gedanke, die Haltung des Gegenübers nicht nur besser kennenzulernen, sondern auch besser zu verstehen - ganz im Sinne Kurt Tucholskys, der Toleranz als den Verdacht umschrieben hat, dass der andere recht haben könnte.

    Das Format, das wir schon Anfang August im Democracy Lab im Münchner Werksviertel ausprobiert hatten, kam gut an - allein, es hätte mehr davon gebraucht. Mehr Rollentausch-Runden mit Gästen und vor allem - wie zu Recht von Teilnehmern kritisiert wurde - insgesamt mehr Diskussion über die Profis hinaus im Publikum. Der Wunsch nach Beteiligung, nach Diskussion war so groß, dass die Zeit dafür zu kurz war.

    Das ist ein Punkt, der in allen Veranstaltungen des Democracy Labs ein entscheidender war: Das Publikum wollte weniger zuhören und mehr mitmachen. Weil wir bewusst mit verschiedenen Formaten experimentiert haben, um herauszufinden, auf welche Weise sich die Diskussionskultur in diesem Land womöglich verbessern lässt, haben wir unsere Veranstaltungen auch dahingehend ausgewertet. Der Wunsch nach mehr Diskussion und Beteiligung wird häufig geäußert. Entsprechend zeigt sich auch auf den Skalen der Feedback-Karten, mit denen die Teilnehmer das Format bewerten konnten: Je mehr sich der einzelne Diskutant in einer kleinen Gruppe selbst einbringen konnte, je aktiver sein Part war, je tiefer er inhaltlich einsteigen konnte, desto größer die Zufriedenheit - insbesondere dann, wenn es darüber hinaus eine klare Struktur und zielorientierte Moderation gab.

    Diskutiert digital: von Whatsapp bis Pingpong

    Wie diskutieren Menschen miteinander, die nicht zur selben Zeit am selben Ort sein können? Im Democracy Lab haben wir unsere Leser zu digitalen Diskussionen eingeladen, für die es - anders als in den Kommentarspalten oder auf Facebook - Spielregeln gab, für die Leser sowie für die eingebundenen SZ-Autoren. Zu den Themen, die analog diskutiert wurden, haben wir ein spezielles Online-Format entwickelt. Nicht alle dieser Formate haben immer so funktioniert, wie wir uns das erhofft hatten. Andere hingegen haben - ganz im Sinn des Experiments - unsere Erwartungen weit übertroffen.

    “Was tun für die Umwelt?” haben wir in der ersten digitalen Debatte gefragt - ohne dabei thematische Einschränkungen zu machen. Wichtig war nur, dass es ein ernstgemeinter Vorschlag war, der durch ein Argument gestützt wird - auch wenn er utopisch wirkte. Mehr als hundert Ideen und Konzepte wurden eingereicht: vom Hundekotbeutel 2.0 bis hin zur Abgasabsauganlage an städtischen Ampelanlagen. Häufig genannte, von den Lesern favorisierte und besonders innovative Vorschläge haben wir anschließend von Fachautoren der SZ auf ihre Sinnhaftigkeit und Umsetzbarkeit prüfen lassen.

    Zum Thema Bildung hat Fachredakteur Matthias Kohlmaier drei Thesen zu "Social Media im Klassenzimmer" aufgestellt - und per Whatsapp verteidigt. Vierzig Leser haben ihm dazu ihre Meinung gesagt - und er hat geantwortet. Die Diskussionen lassen sich hier nachlesen. Live diskutiert auf unserer Homepage hat Wirtschaftsredakteur Alexander Hagelüken zum Thema Erbschaftsteuer mit den Lesern. Vorher ein paar Leitplanken zu definieren, hat sich hierbei bewährt. Hier wie dort lebt aber eine gute Diskussion vom konstruktiven Austausch der Positionen. Es gilt, die Meinung des Gegenübers aufzunehmen, ernst zu nehmen und ihr zu begegnen - sachlich, mit Argumenten.

    Ein Argumente-Pingpong hat Politikredakteur Stefan Braun aus dem Berliner Büro mit den Lesern gespielt. Auf seine Forderung „Wir brauchen dringend ein Integrationsministerium“ konnten Leser eine Replik einsenden (auf die Braun wiederum geantwortet hat). Eine größere Herausforderung, als einfach auf Facebook einen Kommentar zu hinterlassen – trotzdem gab es zahlreiche Rückmeldungen, von denen wir einige veröffentlicht haben. Die Erfahrungen aus diesen digitalen Experimenten wollen wir nutzen, um den Dialog mit unseren Lesern und die Online-Diskussionen weiter zu verbessern – und auszubauen.

    Themen, die das Land bewegen

    Menschen auf der Straße, irgendwo in Deutschland, alt und jung, Handwerker und Student, Schüler und Rentner. Und Vorschläge, Ideen, Meinungen, die genauso verschieden sind: Mietgerechtigkeit, Digitalisierung, Schulen, Überwachung, Bafög … Für manche, wie es im Video heißt, läuft es; für viele andere nicht. Sie wünschen sich, dass sich in Deutschland etwas ändert - alles zusammengenommen ganz schön viel.

    Vor den Diskussionen stand im Democracy Lab das: rausgehen, fragen, zuhören, mitreden, miteinander reden. In der ersten Phase des Projekts wollten wir wissen: Was ist es eigentlich, was Deutschland bewegt? Was soll sich ändern, wenn man die Menschen in diesem Land fragt? Worüber sollen wir eigentlich diskutieren? Themen sammeln, das waren zwei Wochen mit Dutzenden Mails, Hunderten ausgefüllte Karten und Tausenden virtuellen Plakaten, auf die die Leser online malen und schreiben konnten. Es waren zwei Wochen

  • voller Lob (“herzlichen Glückwunsch zu dieser Initiative”),
  • voller Kritik (“Wieso wird quasi komplett Südwestdeutschland ausgelassen?” “Kleinkinderkram mit Anhauch von Waldorf-Pädagogik”)
  • voller Ideen (“Es müsste geschützte Litfaßsäulen geben für lokale öffentliche Diskurse”)
  • und vor allem voller Engagement (“Ich war von Mainz nach Mannheim gefahren, um Euch zu treffen…”, “Jetzt habe ich mich also entschlossen, meine Gedanken aufzuschreiben und hoffe, eine kleinen Beitrag leisten zu können.”

    Zwei Wochen, in denen nicht nur Sie uns vielfach die Frage nach notwendigen Veränderungen in Deutschland beantwortet haben; sondern in denen wir - Gott sei Dank - auch Fragen beantworten konnten wie “Was macht ihr eigentlich hier?” oder “Ihr wollt wirklich meine Meinung hören?”. Die Antworten waren ganz einfach (“Reden, zuhören, mitschreiben” und “Ja”), aber umso wichtiger, wenn sich den Menschen in diesem Land diese Fragen wirklich stellen.

    Also haben wir Meinungen gehört und Vorschläge in dicken Bündeln und vielen Pixeln ins SZ-Hochhaus geschafft und ausgewertet. Die SZ wollte im Democracy Lab bewusst keine Themen selbst setzen; das tun wir jeden Tag nach bestem Wissen und Gewissen auf SZ.de und in der Zeitung. In diesem Projekt sollten die Bürger, Leser und Nicht-Leser, die Themen setzen. Klar hatten wir einiges erwartet, wie die Flüchtlings- oder Bildungspolitik, anderes wie etwa die Forderung nach der Abschaffung des Mittwochs (mehr dazu hier) eher nicht. Vor allem aber haben wir einen Eindruck davon gewonnen, was den Menschen in Deutschland vor der Wahl wirklich wichtig ist.

  • Zugehört vor Ort: Der SZ-Bus auf Deutschlandreise

    Zwölf Tage, zwölf Orte, einmal um die Republik. Von München aus hat sich der SZ-Bus auf den Weg längs und quer durch Deutschland gemacht, um dem Land und seinen Menschen näher zu kommen, nicht nur im übertragenen Sinn. Nun ja, streng genommen waren es sogar zwei VW-Busse, weil der erste auf noch nicht einmal halbem Weg dann doch weniger Durchhaltevermögen bewiesen hat als die Kollegen, die ihn fuhren (das Reisetagebuch der Tour lesen Sie hier). Wir hielten in den nicht ganz so großen Großstädten wie Gelsenkirchen oder Jena - und an ihren Rändern, im Umland, in der Provinz, wenn man so will. Und dort versuchten wir, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, herauszufinden, was ihnen vor der Wahl wichtig ist.

    Manche Menschen hatten viel vor, eine Agenda. Anderswo waren sie zurückhaltend, misstrauisch; manche hatten keine Lust (“Erziehungsjournalismus!”), andere durchaus etwas zu sagen und gute Ideen und Argumente, wenn man sie ansprach. Manche hatten keine Scheu zu schimpfen, anderen musste man Vertraulichkeit zusichern, bevor sie ihre unpopulären Meinungen etwa über die Flüchtlingspolitik („Die Leute reden untereinander darüber, aber nicht offen. Weil sie Angst haben, dass man sie für Nazis hält.“) äußerten. An jeder Station haben die Reporter des Democracy Labs aber nicht nur den Bus abgestellt und mit den Menschen am SZ-Stand diskutiert. Sie haben sich auch umgehört, was die Menschen umtreibt, und das aufgeschrieben:

    Wir haben das Democracy Lab - unter anderem - gestartet, um einen Beitrag für eine bessere Diskurskultur in Deutschland zu leisten. Wir wissen nicht, ob das, wenigstens ein bisschen, gelungen ist - Sätze wie der oben zitierte bestätigen aber immerhin die Diagnose, dass der Versuch wichtig ist. Vielleicht braucht es mehr davon. Die Deutschlandreise war keine wissenschaftliche Untersuchung, keine repräsentative Befragung, keine Psychoanalyse der Volksseele. Es war eine punktuelle Erkundung der gesamtgesellschaftlichen Gemütslage, Momentaufnahmen des Menschlichen, ein Vorwärtstasten im thematischen Dunkeln. Nichtsdestotrotz sehr erhellend.

    Zugehört im Netz: Ihre Themen auf 5000 Plakaten

    Für alle, die sich zu Recht beschwert haben, dass wir nicht in ihre Stadt gekommen sind, haben wir die Frage “Was muss sich in Deutschland ändern?” auch online gestellt. Auf virtuellen Wahlplakaten konnten uns alle Interessierten ihre Meinung malen. Ein schlichtes Tool, eine weiße Fläche, eine begrenzte Farbpalette - aber ein überwältigendes Ergebnis. Vor allem, weil hier Mitmachen mehr als einen schnellen Klick bedeutete. Tausende haben sich beteiligt - was für ein großes Bedürfnis spricht, nicht nur zu konsumieren, sondern sich zu engagieren. Klar kamen auch Forderungen nach mehr Freibier oder Grüße an die Kumpels. Aber die überwiegende Mehrheit der Einsendungen waren ernst gemeint, keine Kalauer mit der Hoffnung auf ein großes Publikum.

    Mehr als 5000 Plakate mit großen Botschaften und kleinen Kunstwerken haben wir am Ende freigeschaltet. Viele auch nicht, weil die Seite beispielsweise nicht für reine Wahlwerbung (“AfD wählen”, “#Schulz2017”) instrumentalisiert werden sollte; weil sie keine Plattform für Hass und Hetze sein darf. Aber alle anderen sind in dieser Galerie zu sehen. Manchen geht es eher um Detailfragen (“50 Cent Einwegpfand”), anderen um das große Ganze (“Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität”). Manche sind Aktivisten (“Cannabis legalisieren”), manche haben ganz persönliche Anliegen (“Keine Werbung auf Kinderkanälen”). Manche Plakate haben schlichte, rein typografische Botschaften, andere sind aufwändig gestaltete Kunstwerke quer durch die Farbpalette.

    Abgestimmt: Fünf Themen für die Diskussionen

    Ästhetik war für die Auswertung allerdings kein Kriterium. Alle Plakate, die eine Antwort auf unsere Leitfrage gegeben haben, und zusätzlich alle Karten, die auf der Deutschlandreise ausgefüllt wurden, haben wir analysiert und kategorisiert. Manches haben wir erwartet, wie zum Beispiel die Dominanz von Themen wie soziale Gerechtigkeit oder Flüchtlingspolitik. Anderes hat uns überrascht, wie etwa die vielen positiven Wortmeldungen für das kriselnde Projekt Europäische Union. Am Ende, nach einer mehrtägigen Auswertung, haben wir zehn Themenbündel geschnürt.

    Diese zehn Schwerpunkte haben wir online zur Abstimmung gestellt. Alle Teilnehmer konnten daraus jene auswählen, die ihnen am wichtigsten waren. Am Ende blieben fünf, in der Grafik oben türkis markierte, Themen übrig, auf die die meisten von insgesamt mehr als 7500 abgegebenen Stimmen entfielen. Die Auswahl der Teilnehmer hat die Agenda gesetzt für die Veranstaltungen in Phase 2. Wir wollten mit Ihnen über das diskutieren, was Sie besonders interessiert, über die Themen, die Sie selbst bestimmt haben. Daher waren die Diskussionsrunden, zu denen wir einladen wollten, ein thematischer Blindflug bis zur Entscheidung der Online-Abstimmung - Sie haben die Richtung vorgegeben. Wir haben zusätzlich Dossiers für alle Themen zusammengestellt, um den Teilnehmern der Offline- wie Online-Diskussionen das Angebot eines gemeinsamen Basiswissens machen zu können:

  • Asypolitik: Wie Flüchtlinge unser Land verändern
  • Demokratie und Gesellschaft: Wann Werte gefährlich werden
  • Bildung: Welche Herausforderungen die Schulpolitik meistern muss
  • Soziale Ungleichheit: Wie Deutschland gerechter wird
  • Umweltschutz: Welche Folgen unsere Lebensweise für die Umwelt hat
  • Was bleibt und wird

    Einzelne Formate, mit denen wir im Democracy Lab experimentiert haben, werden wir auch in Zukunft einsetzen - oder sie weiterentwickeln. Wir werden sicher auch weiter experimentieren. Denn auch das haben wir gelernt: Es lohnt sich.

    Projekte wie das Democracy Lab sollten keine einmalige Erscheinung im Wahljahr sein – das haben wir in den vergangenen Monaten öfter gehört. Es braucht sie, zumal in Zeiten politischer, medialer, gesellschaftlicher (Vertrauens-)Krisen eigentlich immer wieder. Es braucht mehr Austausch, mehr Miteinander, mehr konstruktive, lösungsorientierte Diskussion unter Menschen, die sonst nicht miteinander reden würden. Damit Fragen wie "Ihr wollt wirklich meine Meinung hören?" oder "Darf man das hier sagen?", die uns unter anderem gestellt wurden, überflüssig werden. Und damit sich die politische Diskurskultur insgesamt wieder verbessert.

    Deshalb gilt: Wir müssen weiterreden. Ein Teilnehmer der Münchner Diskussionsrunde hat es, um ihm ganz im Sinne des Projekts das letzte Wort zu geben, auf den Punkt gebracht: "Die Leute schreien nach Veränderung. Schenkt ihnen Gehör."

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