Europäische Union:Gipfel der Ungewissheit

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Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)
  • London und Brüssel nähern sich bis zum Mittwochabend an, aber strittig bleiben vor allem Zollfragen und die Mehrwertsteuer-Regelung.
  • Weitere Themen sind der EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027, der Umgang mit der Türkei sowie die Erweiterungspolitik.
  • Auf Ursula von der Leyen warten kritische Fragen der Staats- und Regierungschefs.

Von Karoline Meta Beisel, Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Schon in normalen Zeiten ist es schwer, Prognosen über EU-Gipfel abzugeben. Wenn die Staats- und Regierungschefs mit den Präsidenten von EU-Kommission und Europäischem Rat sowie wenigen Beratern unter der Kuppel des Brüsseler Europa-Gebäudes zusammensitzen, entwickelt sich oft eine kaum vorherzusehende Dynamik. In Sachen Brexit aber ist 24 Stunden vor Beginn dieses Gipfels noch nicht einmal klar, wann genau über den EU-Austritt der Briten beraten wird.

Während die Politblase im Europaviertel auf belastbare Nachrichten wartet, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im knapp 1000 Kilometer entfernten Toulouse: "Die Nachrichten, die wir aus Brüssel hören, könnten schlechter sein." Neben ihr steht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und auch er ist zuversichtlich, dass die Expertenteams aus London und Brüssel, die seit Samstag mit kurzen Unterbrechungen im fünften Stock des Berlaymont-Gebäudes verhandeln, dem Durchbruch nahe sind.

Am Dienstag um 19:34 Uhr betritt Michel Barnier das Europa-Gebäude und informiert die Botschafter: Beide Seiten sind noch nicht ganz am Ziel. Unsicher sei weiter, ob die DUP zustimmen werde beziehungsweise ob Nordirland von Premier Boris Johnson hinreichend entschädigt wird. Und es gebe noch keine funktionierende Mehrwertsteuer-Regelung, die nach Ansicht der EU für den Handel zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens nötig wäre. Daher habe Johnson sein "Okay" noch nicht geben können. Als problematisch wurde empfunden, dass der Vertragstext noch nicht vorliegt - und es ist offen, ob sich dies bis zu Beginn des Gipfels um 15 Uhr ändert. Dann wäre es äußerst schwer, den Rechtstext in den Hauptstädten prüfen zu lassen.

Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus machen Brüssel Sorgen

Als Barnier sich um kurz vor 21 Uhr auf den Weg macht, die Brexit-Experten des Europaparlaments zu informieren, sagt er: "Wir arbeiten weiter, wir arbeiten weiter." Nun ist aber immerhin klar, wie der erste Gipfel-Tag ablaufen wird. Die Staats- und Regierungschefs werden gegen Mittag in der belgischen Hauptstadt eintreffen und sich zunächst in ihren jeweiligen Parteifamilien beraten (Christ- und Sozialdemokraten wie Liberale). Um 15 Uhr beginnt dann der Gipfel, zunächst mit einer Diskussion mit David Sassoli, dem Präsidenten des Europaparlaments.

Los geht es dann, wie üblich, mit dem Brexit. Boris Johnson dürfte seine Sicht der Dinge darlegen, was maximal eine Stunde dauern sollte, danach beraten die EU-27 ohne ihn über das Vorgehen. Diese Diskussion soll vor dem Abendessen und mit einer Pressekonferenz von EU-Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker beendet werden. Beim anschließenden Dinner soll vor allem über außenpolitische Fragen geredet werden, also über die Türkei sowie die Erweiterungspolitik. Um 19 Uhr soll es schließlich eine Presseerklärung geben.

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Ein großes Risiko aus Brüsseler Sicht sind die Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus, das am Samstag eine Sondersitzung abhält. Auf mündliche Zusicherungen, die Theresa May stets präsentierte, will sich niemand verlassen. Eine informelle Abstimmung im Unterhaus, das die Unterstützung für einen möglichen Vertrag belegt, würde indes enorm helfen.

Es wäre EU-Ratspräsident Donald Tusk, der einen Sondergipfel einberufen müsste, um über einen Verlängerungsantrag aus London zu entscheiden. So ein Treffen könnte Ende Oktober stattfinden. Eine technische Verlängerung von wenigen Wochen wäre wohl in jedem Fall nötig, um letzte juristische Feinheiten zu klären, alles in die 23 Amtssprachen übersetzen zu lassen und auch das Europaparlament um Zustimmung zu bitten. Solch ein kurzer Aufschub gilt als wahrscheinlicher als eine "politische Verlängerung" von etwa sechs Monaten, die wohl nur infrage kommt, wenn es in Großbritannien Neuwahlen oder ein zweites Referendum geben sollte. Ein "Ja" der EU-27 für eine Verschiebung gilt in beiden Fällen als sicher.

Neben Boris Johnson muss sich auch Ursula von der Leyen auf unangenehme Fragen einstellen. Die designierte Präsidentin der EU-Kommission soll erklären, wie es weitergehen soll mit der Bildung der EU-Kommission, nachdem das Europaparlament nicht nur die Kandidaten aus Ungarn und Rumänien, sondern auch die Französin Sylvie Goulard abgelehnt hatte. Frankreichs Präsident Macron hatte die Verantwortung dafür zunächst auf Ursula von der Leyen geschoben, die die Abgeordneten nicht im Griff habe. "Inzwischen hat sich Macron wieder ein wenig beruhigt", sagt ein EU-Diplomat.

Und nicht nur Macron fragt sich, wie von der Leyen künftig im Parlament Mehrheiten organisieren will, wenn schon ihr Start so schwierig ist. Einige Staats- und Regierungschefs finden außerdem, dass von der Leyens Kandidaten dem Parlament in den Anhörungen schon sehr viele Zugeständnisse gemacht haben. "Jetzt ist es an der Zeit, sie auch wieder an die Prioritäten der Mitgliedstaaten zu erinnern", sagt ein EU-Diplomat.

Geplant sind auch Gespräche über den Haushalt der EU für die sieben Jahre von 2021 bis 2027. Von einer Einigung sind die Mitgliedstaaten weit entfernt, zumal mit den Briten vermutlich ein wichtiger Beitragszahler wegfällt. Deutschland gehört zu jenen Staaten, die auf Sparsamkeit dringen. Die Bundesregierung will, dass die EU nicht mehr als ein Prozent der Wirtschaftsleistung der Mitglieder ausgibt - genau wie beim laufenden Haushaltsrahmen. Der scheidende Haushaltskommissar Günther Oettinger hingegen schlägt gut 1,1 Prozent vor, um den Weggang der Briten auszugleichen. Das Europäische Parlament, das dem Haushaltsrahmen zustimmen muss, fordert sogar 1,3 Prozent, um etwa von der Leyens ehrgeizige Versprechen in Sachen Klimaschutz finanzieren zu können.

Debattiert wird über Ankaras Militärinvasion und die Erweiterungspolitik

Die Staats- und Regierungschefs sprechen auch über Themen mit Türkei-Bezug. Die Invasion in Nordsyrien sei "eine große Krise in unserer Nachbarschaft, da können wir nicht nicht darüber sprechen", sagt ein EU-Diplomat. Die klare Botschaft der Außenminister, die am Montag den türkischen Angriff "verurteilt" hätten, solle von den leaders bekräftigt werden: "So klare Worte haben wir noch nie verwendet gegenüber einem Nato-Partner und einem Kandidatenland." Wie schon im Juni dürften die türkischen Erdgasbohrungen vor der Küste Zyperns, die die EU als illegal ansieht, klar verurteilt werden. Beraten wird aber auch, wie die EU in der Migrationspolitik mit der Türkei weiter zusammenarbeiten und diese bei der Versorgung von Flüchtlingen unterstützen kann.

Dass bei diesem Gipfel auch über die Erweiterungspolitik gesprochen wird, liegt an einem Mann: Emmanuel Macron. Frankreich blockierte am Dienstag die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien. Während auch Staaten wie Dänemark, die Niederlande oder Spanien Vorbehalte gegen Albanien haben, steht Paris in der Ablehnung Nordmazedoniens allein.

Eine überwältigende Mehrheit der Mitgliedstaaten empfindet das Pariser Argument, zunächst eine grundsätzliche Reform des Beitrittsprozesses durchzuführen, als vorgeschoben. Sie verweisen darauf, dass die EU beiden Kandidatenländern das Versprechen auf Start der Beitrittsverhandlungen gegeben habe, wenn diese Reformen umsetzen. Die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der EU sei dadurch gefährdet; zudem könnten Russland und China sonst in der geostrategisch wichtigen Region an Einfluss gewinnen.

© SZ vom 17.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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